August 13, 2006

Utopisch geschützt und christlich verborgen

An einem Ort sollen eine Vielzahl disparater Visionen und utopischer Gedanken wie Strandgut angespült werden, die meist heterodox zueinander sind und daher zu ihrer Polyphonie mehrfach dissonant klingen. Ein solcher Ort tauscht auch nur mit dem Widersprüchlichen, Nichtidentischen und findet Einheit bloß in der Mannigfaltigkeit dessen, was jene Einheit verneint.(1) Ganz gewiss kann es gelingen das A-logische, das Regellose, das Willkürliche, das radikal Fremde und den Anderen, mit dem kein Sinnhorizont mehr geteilt wird, zu befreunden und liebevoll mit einzubeziehen. Wird jedoch danach gefragt ob denn an diesem Ort Wissen von morgen schon heute zu erlangen ist(2), kann diese Funktion des Unidentischen, des Dissoziierten und Unartikulierten ebenfalls nur mit einer Negation beantworten.

Die berühmteste Antwort auf diese Frage nach der Zukunft kannte nach Platons Interpretation schon Sokrates, kurz bevor er den tödlichen Schierlingsbecher leerte. Mit seinem bekannten Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (3) wies er auf eine grundlegendere und zugleich höhere Einheit des Wissens hin, als der Mensch zu begreifen vermag. Er wandte sich damit, nicht nur gegen die tödliche Enge seiner eigenen geschlossenen, an letzten Wahrheiten aufgehängte Systematik, sondern auch gegen das gefährlich totalitäre System von Glaubensvorstellungen seiner sophistischen Widersacher.

An diesem Ort wird zwar solche Totalität dadurch verhindert, dass der Einzelne zum Gesetzgeber seiner selbst geworden ist, ohne, dass seine individuellen Eigenheiten und Vergangenheiten mehr zählen als die der anderen. Anders gesagt die Zertrümmerung der absolutistischen Moral der getrennten Welten(4) ist verbürgt durch eine Verkleinerung der moralischen Maßstäbe im Internetforum. Was aber verbürgt, dass dieser Sturz in eine regellose Offenheit (5) mit kaum abzuschätzenden Konsequenzen, als Bereicherung erlebt wird (6) oder ein Kontinuum von Diskontinuitäten hervorruft(7)? Sicherlich schließen Globalisierung und Vielfalt sich nicht aus (8) aber alternativ zu Liebe, Billigkeit, Vergebung, Barmherzigkeit, Anerkennung, Freundschaft und Gerechtigkeit als Ziel der versuchenden Moral, können auch anderem nicht nur sich gegenseitig begünstigende Verhältnisse gedacht werden.


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1 Horkheimer und Adorno 2003: Dialektik der Aufklärung. Suhrkamp. S.54.
2 Vgl. Niemann H.-J. (1994): Die Utopiekritik bei Karl Popper und Hans Albert. In: Aufklärung und Kritik 1/1994 (S. 57 ff.)
3 Platon. (1994): Apologie des Sokrates. Erste Rede, 21d. In: Wolf, U. (Hrsg.) Platon. Sämtliche Werke. Übers. Schleiermacher, F. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.
4 Vgl. Beck, U. (1997): Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S.137.
5 Byung-Chul, H. (2005): Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung. Merve Verlag Berlin. S.70.
6 Alternativ könnten auch Liebe, Billigkeit, Vergebung, Barmherzigkeit, Anerkennung, Freundschaft Gerechtigkeit das Ziel der versuchenden Moral sein, denn „Globalisierung und Vielfalt schließen sich nicht aus.“ (Byung-Chul 2005: 22)
7 Byung-Chul 2005: 71.
8 ebd. 22.

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